Paulus schreibt im 2. Brief an Timotheus in Kapitel 3,15-17: „15 du kennst von Kindheit an die heiligen Schriften, die dich weise machen können zum Heil durch den Glauben an Christus Jesus. 16 Jede Schrift ist, als von Gott eingegeben, auch nützlich zur Belehrung, zur Widerlegung, zur Besserung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit, 17 damit der Mensch Gottes gerüstet ist, ausgerüstet zu jedem guten Werk.“
Mit dem Begriff „die heiligen Schriften“ meint Paulus die jüdische Bibel – also den Tanach, bestehend aus den fünf Büchern Mose (Tora), den Propheten (Nevi’im) und den Schriften (Ketuvim). Der Tanach war die Bibel der ersten Jesusnachfolger.
Jesus sagt in der Bergpredigt in Matthäus 5,17: „Meint nicht, dass ich gekommen sei, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen.“
In Lukas 24,44 sagt Jesus nach der Auferstehung zu den versammelten Jüngern: „Das sind meine Worte, die ich zu euch gesprochen habe, als ich noch bei euch war: Alles muss in Erfüllung gehen, was im Gesetz des Mose, bei den Propheten und in den Psalmen über mich geschrieben steht.“
Hier haben wir wieder diese Dreiteilung des Tanach, die auch im Judentum vorhanden ist.
Das Neue Testament ist also die Interpretation Jesu der jüdischen Schriften, also des Tanach.
Jeder Vers im Neuen Testament hat eine Vorgeschichte im ersten Testament. Deswegen haben Juden und Christen gemeinsame Bücher.
So wie das Herz der Juden im Talmud und der Tora verwurzelt ist, so ist das Herz der Jesusbewegung im Neuen Testament (Brit HaChadascha) und im Tanach verwurzelt.
Der Talmud enthält die jüdische Interpretation der mündlichen Tora. Der Talmud selbst enthält somit keine biblischen Gesetzestexte (Tanach), sondern zeigt auf, wie diese Regeln in der Praxis und im Alltag von den Rabbinern verstanden und ausgelegt wurden. Der Talmud besteht aus der Mischna, der Gemara und jüngeren Kommentaren.
Das Neue Testament enthält die Jesus-Interpretation der jüdischen Bibel, dem Tanach.
Die ersten schriftlichen Wurzeln des Neuen Testaments waren die Notizen des Jüngers Matthäus über die Bergpredigt, die um das Jahr 30 angefertigt wurden. Die späteste Schrift des Neuen Testaments ist die Offenbarung von Johannes, die um 95 nach unserer Zeitrechnung entstand.
Die Mischna als Grundlage des Talmuds ist nach der Zerstörung des Tempels im Jahr 70 aufgeschrieben worden. Jehuda ha-Nasi (165-217 n. Chr.) sammelte und redigierte im 3. Jahrhundert die Mischna. Die spätesten Schriften des Talmuds stammen aus dem zwölften und dem dreizehnten Jahrhundert. Sie wurden von den Tosafisten (also Glossatoren, wörtlich „die Hinzufügenden“) angefertigt. Der erste Druck des babylonischen Talmuds aus dem Jahr 1523, editiert von Jacob Ben Chajim, stammt aus der Druckerei von Daniel Bomberg, einem aus Antwerpen stammenden Christen, der zwischen 1516 und 1539 in Venedig tätig war. Die von Bomberg eingeführte Folio-Zählung wird heute noch benutzt.
Der Talmud und das Neue Testament sind beides Anleitungen, wie man die jüdische Bibel praktisch im Leben umsetzt.
Sowohl der Talmud, der ab dem 3. Jahrhundert entstand, als auch das Neue Testament aus dem ersten Jahrhundert sind beides jüdische Schriften. Beide verstehen sich als eine Umsetzung der jüdischen Bibel und dass sie aus ihr heraus entstanden sind, wenn auch mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Das Neue Testament entstand aus einer messianischen Bewegung heraus, die Schriften des Judentums entstammen einer Interpretationskultur.
Ein anderer Unterschied zwischen beiden Schriftwerken ist, dass Christen alle jüdischen Schriften als gleichwertig betrachten. Für Juden ist jedoch die Tora mit dem Talmud die oberste Autorität, erst dann kommen die Propheten und die anderen Schriften.
Doch es gibt auch Gemeinsamkeiten: Wie sich manche Juden nur noch auf den Talmud stützen, so konzentrieren sich auch einige Christen nur noch auf das Neue Testament.
Vor dem zweiten Weltkrieg war der Austausch zwischen Rabbinern und Pfarrern sehr intensiv. Viele Bibelausleger haben von dem rabbinischen Hintergrundwissen profitiert.
Wir stellen fest: Wir können voneinander lernen. Denn jede Richtung entdeckt in den gemeinsamen Schriften neue Aspekte. Ob wir diese Gedanken für unsere eigene Vorstellung vom Glaubensleben übernehmen, ist dann wieder eine persönliche Frage.
https://www.obrist-impulse.net/juden-und-christen-im-gespraech-ueber-die-bibel
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